Gelebte Nachbarschaft in familiärer Umgebung
Inga Dohmes geht aus ihrem Haus und schon wird sie von den Nachbarn begrüßt, es wird ein Pläuschchen gehalten, bevor es in die nächste Straße geht. Aus dem Fenster winkt die Schwiegermutter und das nächste Auto, das vorbeifährt, hält auch kurz an, um mit ihr noch kurz etwas zu besprechen – gelebte Nachbarschaft in familiärer Umgebung. „Ich liebe es, wenn ich durch den Ort gehe und so viele Menschen treffe”, sagt Inga Dohmes. Sie ist die Ortsvorsteherin von Morschenich-Neu, oder wie es seit Anfang Juli „nur” noch heißt – Morschenich. Ein ganzes Dorf ist umgezogen, denn ihre alte Heimat, Morschenich (Alt), ebenfalls Anfang Juli umbenannt in Bürgewald, sollte es eigentlich nicht mehr geben.
Die Bagger aus dem Braunkohletagebau Hambach rückten immer näher, das Ende des Dorfes war für die Bewohner sozusagen in Sichtweite und seit Jahrzehnten klar, dass die Menschen in ihren Häusern nicht dauerhaft bleiben konnten. „Ich bin in Morschenich-Alt geboren und aufwachsen und es war für mich von Anfang an klar, dass ich in diesem Haus nicht bleiben werde, dass meine Familie irgendwann umziehen muss”, sagt Inga Dohmes. Der Abschied war also ständiger Begleiter, die Umsiedlung rund sieben Kilometer weiter keine Neuigkeit, sondern ein Umstand, auf den sich die fast 500 Bewohner jahrzehntelang einstellen konnten. Doch es kam anders, als Jahrzehnte lang angenommen. Proteste am Hambacher Forst haben Morschenich bundesweit bekannt gemacht, am Ende darf das Dorf bleiben, wird nicht abgebaggert.
Die Menschen sind aber schon längst weg. Doch dazu später mehr. In Morschenich (Neu) sind Straßen, Kirche, Friedhof, Spielplatz und Wege hinter den Häusern neu, mitgestaltet von den Bewohnerinnen und Bewohnern, doch ein Großteil der Nachbarschaft und damit auch der Zusammenhalt und das Dorfleben sind mitgekommen, das Gefühl neu, aber auch vertraut. „Wann hat man schon mal die Gelegenheit, sein eigenen Ort, die Nachbarn, die Wege und den Aufbau mitzubestimmen. Wir haben natürlich darauf geachtet, dass die Schützen gut durch den Ort ziehen können”, sagt Inga Dohmes mit einem Lächeln.
Das letzte Schützenfest vor der Umsiedlung wurde zweimal gefeiert, einmal in Alt, einmal in Neu – eine symbolische Verbindung zwischen Vergangenheit und Zukunft. Seit sieben Jahren wohnt Familie Dohmes nun in Morschenich, anfangs sei es in ihrem neugebauten und nun barrierefreien Haus wie Urlaub gewesen und irgendwann setzte die Realisierung ein, dass es das neue Zuhause ist. „Hinterher waren wir aber froh, dass wir weggezogen sind. Es wurde immer dunkler. Nach und nach gingen in Morschenich-Alt die Lichter aus, weil die Nachbarn weggezogen sind. Hier ist nun Leben, hier ist Aufbruch”, sagt sie. Einige Häuser in Morschenich-Alt beziehungsweise Bürgewald sind abgerissen. Für viele ältere Bewohner ein Segen, wie es im jetzigen neuen Dorf heißt, denn damit ist der Abschied endgültig, ein klarer Schnitt. „Einem Verfall des eigenen Heims muss man somit nicht zusehen”, sagt der Nachbar von Inga Dohmes, Udo Wirtz.
Das alte Haus von Inga Dohmes steht noch, ein Zuhause ist es nicht mehr. Beim Spaziergang durch Bürgewald wird deutlich, dass der Ort eigentlich nicht mehr für ein Weiterleben gedacht war. Verfallene Häuser, Bretter vor den Fenstern, kaputte Gläser. Jetzt wartet er auf Wiederbelebung. Wie diese aussehen kann, das ist noch unklar. Die Gemeinde hat den ehemaligen Eigentürmern angeboten, die Häuser zurückzukaufen. Initiativen und Projekte beschäftigen sich mit der Zukunft des Dorfes, in dem derzeit vor allem ukrainische Geflüchtete leben. Auch Calvin Köcher möchte etwas für seine alte Heimat machen, ihr wieder eine Zukunft geben. Er ist Gründungsmitglied für den Förderverein für Bürgewald. Erster Vorsitzender ist Bürgermeister Georg Gelhausen, zweite Vorsitzende Inga Dohmes. Ziel ist es, die Kultur vor Ort und andere Projekte anzustoßen, um das Dorfbild wiederzubeleben. Wie das aussehen kann, wird sich noch zeigen, der Eintrag ins Vereinsregister ist erst ein paar Wochen alt. Schritt für Schritt geht es voran. Langfristig ist das Ziel des 24-Jährigen klar, der mit seiner Familie umsiedeln musste. „Ich möchte schon gerne hier wieder leben, hier bin ich aufgewachsen, es ist meine Heimat, zu der ich eine starke Verbindung habe. Ich kenne jeden Stein.” Wenn der Ort nicht verfallen soll, dann muss Leben einziehen. Heißt auch: „Irgendwann muss es hier auch wieder eine Feuerwehr geben, ein Vereinsleben. Wir sind junge Menschen, die etwas bewegen wollen und haben hier die Gelegenheit, etwas Neues aus Altem zu erschaffen.” Aber es geht ihm auch darum, alle Generationen bei den Fragen nach der Zukunft einzubinden. Inga Dohmes und Calvin Köcher – mittendrin im Strukturwandel.